KÖRNER-Interview: Die Uhr für den Rechtsstaat in Europa tickt

Das FDP-Präsidiumsmitglied Moritz Körner gab der Neuen Zürcher Zeitung (Samstag-Ausgabe) folgendes Interview. Die Fragen stellte Daniel Steinvorth:

Frage: Herr Körner, seit dem 1. Juni ist der 750 Milliarden Euro schwere Corona-Aufbaufonds startbereit, mit dem die EU die Wirtschaft ankurbeln will. Am selben Tag hat in Luxemburg die Europäische Staatsanwaltschaft (Eppo) ihre Arbeit aufgenommen. Können die Steuerzahler hoffen, dass die EU-Gelder nicht in dunklen Kanälen verschwinden?

Körner: Ich erwarte, dass mit der Eppo Korruption und Subventionsbetrug viel effizienter als bisher verhindert werden können. Bisher gab es in der EU nur die Anti-Korruptions-Behörde Olaf, die Untersuchungen anstellen, aber keine staatsanwaltlichen Ermittlungen einleiten darf. Auf nationaler Ebene werden viele Verdachtsfälle gar nicht erst verfolgt. Die Eppo kann dagegen grenzüberschreitend ermitteln und auch Anklage erheben. Mit dem Corona-Aufbaufonds kommt natürlich sehr viel Arbeit auf die europäischen Staatsanwälte zu, denn da wird viel Geld zu verteilen sein. Das multipliziert die Gefahr des Missbrauchs.

Frage: Ob einem mutmasslich korrupten Politiker der Prozess gemacht wird, entscheiden aber immer noch die nationalen Justizbehörden, oder?

Körner: Klar, wir haben ja kein europäisches Gerichtssystem. Die Fälle landen weiterhin vor nationalen Gerichten. Ein Knackpunkt sind deswegen die «delegierten» Staatsanwälte. Das sind die Staatsanwälte, die nicht in der Zentrale in Luxemburg, sondern vor Ort in den Mitgliedsstaaten im Auftrag der Eppo ermitteln. Die Frage ist: Wie unabhängig sind diese Staatsanwälte? Wie gut funktioniert die Zusammenarbeit mit ihnen?

Frage: In Slowenien hat die Regierung von Janez Jansa gerade erst die Ernennung der beiden delegierten Staatsanwälte verweigert.

Körner: Das ist ein Skandal ohnegleichen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Slowenien kurz davor ist, die EU-Ratspräsidentschaft zu übernehmen. Normalerweise achten Mitgliedstaaten in dieser Zeit darauf, keine Probleme zu schaffen. Die slowenische Justizministerin ist zurückgetreten, weil Jansa die Nominierung von zwei offenbar missliebigen Staatsanwälten verhindert hat. Die Generalstaatsanwältin Laura Kövesi hat das als schweren Schlag für die Eppo bezeichnet.

Frage: Und Tschechien? Dort steht derzeit der Ministerpräsident Andrej Babis im Verdacht, sich Fördergelder aus Brüssel erschlichen zu haben. Ist das nicht ein Fall für Frau Kövesi?

Körner: Wenn es Ungereimtheiten im Umgang mit EU-Mitteln gibt, muss die Eppo ermitteln. Das sage ich auch als Mitglied der Renew-Europe-Fraktion im Europaparlament, zu der die tschechische Regierungspartei Ano gehört. Darum geht es ja: Wir wollen eine unabhängige supranationale Behörde, die mit klassischen juristischen Mitteln arbeiten kann. Nur so lässt sich auch der Streit um die Rechtsstaatlichkeit in der EU entpolitisieren.

Frage: Angst vor einer unabhängigen Staatsanwaltschaft scheinen noch andere Staaten zu haben. Dänemark, Irland, Schweden, Polen und Ungarn beteiligen sich erst gar nicht an dem Projekt.

Körner: Dänemark, Irland und Schweden haben sich wohl eher aus verfassungsrechtlichen Gründen gegen eine Teilnahme entschieden. Wenn die Eppo ein Erfolg wird, kann ich mir gut vorstellen, dass sie nachziehen. Polen und Ungarn hingegen machen nicht mit, weil sie genau diese Ermittlungen nicht wollen. Das ist vor allem mit Blick auf Ungarn ein riesiges Problem: Wir wissen, dass in den vergangenen Jahren vier Prozent der EU-Mittel für das Land veruntreut wurden.

Frage: Diese Staaten müssen also keine Konsequenzen fürchten?

Körner: Die Eppo ist nicht das einzige Kontrollinstrument gegen den Missbrauch von EU-Geldern. Es gibt auch noch den Rechtsstaatsmechanismus, der am 1. Januar in Kraft getreten ist. Mit ihm können Fördermittel für einzelne Staaten gekürzt werden, wenn diese nachweislich gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstossen. Das Problem ist allerdings, dass Polen und Ungarn gerade dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) klagen.

Frage: Bis der EuGH entscheidet, kann einige Zeit verstreichen . . .

Körner: Wir sind deswegen ziemlich enttäuscht, dass die EU-Kommission nicht schon jetzt den Mechanismus anwendet. Sie ist eigentlich dazu verpflichtet. Stattdessen lässt sie jetzt Leitlinien ausarbeiten, wie die Rechtsstaatlichkeits-Verordnung genau umgesetzt werden soll. In Wahrheit verhält sich die Kommission wie eine Feuerwehr, die zum Brand hinfährt und dann erst einmal diskutiert, wie man den Brand löschen will.

Frage: Ende 2020 drohten Ungarn und Polen damit, aus Protest gegen den Rechtsstaatsmechanismus den EU-Haushalt platzen zu lassen. Der Streit wurde gelöst, indem den beiden Staaten das Recht zugestanden wurde, den Mechanismus vor dem EuGH überprüfen zu lassen.

Körner: Ja, aber das heisst nicht, dass die Kommission erst ein Urteil des EuGH abwarten muss, um tätig zu werden. Das Problem ist, dass Herr Orban und Herr Kaczynski alles dafür tun, um den Einsatz des Mechanismus zu verhindern, und in der Zwischenzeit hohe Milliardenbeträge aus dem gemeinsamen Haushalt überwiesen bekommen. Wir sind im Begriff, wegen Untätigkeit gegen die Kommission zu klagen. Die Uhr für den Rechtsstaat in Europa tickt.

Frage: Ohne das EU-Parlament gäbe es heute wahrscheinlich keinen Rechtsstaatsmechanismus und keine Eppo. Das Parlament hat in den letzten Jahren heftig mit der Kommission und den Mitgliedstaaten gerungen.

Körner: Wir sind ja auch diejenigen, denen von den Wählern Vorwürfe gemacht werden. Da heisst es: Ihr lasst doch den Missbrauch mit unseren Steuergeldern zu. Wie kann es sein, dass in Ungarn ein Ferienlager gebaut werden soll, wo die Verwandten von Viktor Orban Partys feiern? Das hören wir als Abgeordnete täglich. Und wir merken, wie das an der Glaubwürdigkeit der EU kratzt.

Frage: Ist die EU noch glaubwürdig als Rechtsgemeinschaft?

Körner: Für mich ist das tatsächlich die grosse Frage. Wir beobachten eine zunehmende Erosion der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen, aber auch in Ländern wie Malta oder Bulgarien. Wenn wir es nicht schaffen, mit Instrumenten wie der Eppo und dem Rechtsstaatsmechanismus diesen Trend aufzuhalten, und wenn die Solidarität der Steuerzahler besonders in den Nettozahler-Staaten weiter abnimmt, haben wir ein Problem. Jeder Euro, der in dunklen Kanälen verschwindet, höhlt das Vertrauen in die EU aus. Wenn wir eine starke EU wollen, die sich zwischen den geopolitischen Blöcken behauptet, müssen wir erst einmal unsere Hausaufgaben machen und unsere Grundwerte verteidigen.