FDP-Präsidiumsmitglied und Bundesminister der Justiz Dr. Marco Buschmann schrieb für die „Welt am Sonntag“ den folgenden Gastbeitrag:
Wenn ich einen Wunsch frei hätte, was wir uns als Gesellschaft für das neue Jahr vornehmen sollten, wäre meine Wahl: eine bessere Debattenkultur für unser Land. Denn sie ist akut durch zwei Probleme gefährdet.
Das erste Problem ist eine sich immer weiter steigernde Unduldsamkeit gegenüber Standpunkten, die nicht die eigenen sind. Jeder glaubt, recht zu haben. Immer größer ist die Wut, dass es nicht so läuft, wie man selbst es für richtig hält – ob bei Migration, Klima oder Corona. Die Gegenseite wird mit immer größeren moralischen Keulen traktiert. Jeder Grauton jenseits von „Nazi“ oder „offene Grenzen“, „Klimaleugner“ oder „Öko-Faschist“, „Querdenker“ oder „Corona-Diktatur“ läuft Gefahr, von einem Meinungspol ins aufmerksamkeitsökonomische Gravitationsfeld des anderen Pols gestoßen zu werden. Manche beschimpfen die anderen nicht einmal mehr, sondern haken sie gleich ganz ab. Der Anteil der Menschen in Deutschland, die sich gerne mit Andersdenkenden austauschen, geht nach Umfragen seit Jahren zurück. Kürzlich ermittelte das Allensbach-Institut nur noch 37 Prozent. Schwindet die Einsicht, dass es legitime Meinungen geben kann jenseits der eigenen?
Unsere Ordnung der Freiheit mutet den Menschen etwas zu. Dazu gehört der Meinungspluralismus. Stattdessen greift eine immer größere Ambiguitätsintoleranz um sich. Es mangelt zunehmend an der Fähigkeit, Unsicherheiten und mehrdeutige Situationen zu ertragen. Man zieht sich in „safe spaces“ und die eigene „bubble“ zurück. Und jenseits des eigenen Meinungskokons scheinen nur noch „verbotene Zonen“ voller „Barbaren“ zu existieren. Das ist eine Gefahr für eine der größten Stärken liberaler Gesellschaften. Denn seit der Aufklärung haben sie eine faszinierende Kulturtechnik entwickelt: die öffentliche Erörterung politischer Sachverhalte. Sie ruft das in der Gesellschaft verstreute Wissen auf. Sie setzt jeden Vorschlag zur Regelung öffentlicher Angelegenheiten der freien Debatte aus. Debatte aber heißt Rede und Gegenrede. Das setzt Debattenkultur voraus: eine Kultur, die immer neu zum sachlichen Widerspruch ermutigt.
Was wir zum Schutz der Debattenkultur in der Tradition der Aufklärung mobilisieren müssen, wäre das, was im Kern „Bildung“ bedeutet. Bildung fängt mit Unsicherheit und Zweifel an, mit der Wahrnehmung und mit dem Aushalten von Problemen, nicht mit Wissen und Gewissheiten, auch nicht mit moralischen. Bildung heißt, den Sinn für legitime Vielfalt und unvermeidbare Uneindeutigkeit zu schärfen. Die produktive Bearbeitung äußerer Konflikte ist nicht möglich ohne solchen inneren Konflikt. Wer nicht einen Augenblick bereit ist anzunehmen, dass man selbst im Unrecht und der andere im Recht sein könnte, wird keine gemeinsamen Lösungen und Antworten finden.
Das zweite Problem besteht in einer Abwendung vom Individuum und einer zunehmenden Betrachtung der Gesellschaft als einer Ansammlung von immer mehr Gruppen, die sich durch Benachteiligung definieren. Damit einher geht eine wachsende Empfindlichkeit gegenüber Worten und Taten, in denen man Spuren von unzulässigen kulturellen Übernahmen, von Nicht-Anerkennung oder Schlimmerem wahrnimmt. Die Beispiele häufen sich: ob es um die Übersetzung von Gedichten oder die Verwendung einzelner Worte geht. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Es gibt Worte, die erniedrigen und mit ihrer Verwendung eindeutig erniedrigen sollen. Sie haben im aufgeklärten Diskurs nichts zu suchen. Aber müssen wir stets mit der Lupe methodisch unterstellter Missgunst unterwegs sein, die vom eigentlichen Kern der Debatte ablenkt?
Es ist dringend, dass wir Gegenkräfte entwickeln gegen all diese Gefährdungen liberaler Demokratie und politischer Kultur – Gegenkräfte der Liberalität: andere Standpunkte verstehen, aushalten, respektieren wollen, bis zur Grenze wiederum des Illiberalen natürlich nur; weniger mit Empfindlichkeit kommunizieren und mehr mit Analyse und Argument. Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat das vor einiger Zeit „robuste Liberalität“ genannt und dazu aufgerufen.
Wir müssen erkennen, dass Empfindlichkeit auch ihre kommunikative Schattenseite hat. Natürlich ist sie ein Motor von Zivilität und Humanität; aber sie kann auch schaden, sie kann Austausch, Entwicklung, lehrreichen Perspektivenwechsel hemmen, sie kann abschotten von allem, was uns irritieren und damit auch weiterbringen könnte. Heute ist überall viel von „Resilienz“ die Rede. Es wäre wichtig, dass wir emotional resilienter werden, dass wir nicht bei jeder Verstimmung, jedem Unwohlsein glauben, dass da jetzt jemand kommen müsse, um Abhilfe zu schaffen. Für den souveränen Umgang mit Pluralität, Konflikt und Widerspruch als den Folgen von Freiheit ist etwas nötig, das man auch Demut nennen könnte: selbst vom Hochsitz des Besserwissers herabsteigen; unterstellen, dass der andere nicht rundheraus böswillig ist, sondern auch einen Punkt hat, der Beachtung verdient. Wir müssen das üben, was man in den Geisteswissenschaften das „hermeneutische Wohlwollen“ genannt hat, die Maxime: Lies und höre den anderen stets so, dass du das bestmögliche Gemeinte herausholst!
Wir können alle – durch die Art und Weise, wie wir miteinander reden, wie wir aufeinander reagieren – dazu beitragen, dass wir bei aller Diversität als Gesellschaft nicht in voneinander sich abschottende Gruppen zerfallen, sondern einander zugewandt bleiben im streitenden Gespräch. Wir müssen – das ist mein Plädoyer – anderen Positionen wieder besser und mehr zuhören. Wir müssen die Angst ablegen, von Meinungen, die wir nicht teilen, sozusagen kontaminiert zu werden. Begreifen wir sie im Gegenteil als Anlass zum Hinterfragen und zum Widerspruch. Erinnern wir uns daran, dass Streit nicht nur die Abwesenheit von Eintracht ist, sondern schlicht das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Meinungen. Trauen wir uns bessere Debatten zu. Bleiben wir sensibel für die tatsächliche Gleichheit der Rechte und der Freiheit, die unser Grundgesetz allen verspricht; aber werden wir auch sensibel für die Gefährdungen unseres kommunikativen Miteinanders in der liberalen Demokratie, die ich versucht habe zu schildern. Nur auf der Grundlage einer besseren Debattenkultur werden wir die Probleme gut lösen können, die uns auch das neue Jahr vielfältig aufgeben wird.